kit/Matthias Penzel
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Kindstage in Ketten
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- Kapitel 2
Hypertextpuzzle (kit)
-(kit) nonJava
Erzählung
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Interview
Madison Smartt Bell
Rudy Rucker |
|
Madison Smartt Bell
im Gespräch mit Matthias Penzel
Matthias Penzel: Douglas Coupland sagte einmal, er
interessiere sich nicht für Balzac oder überhaupt irgend einen Autor, der vor
1930 veröffentlicht wurde. Seine Faustregel lautet: Bücher, in denen es keine
Telefone gibt, interessieren ihn nicht. AUFSTAND ALLER SEELEN ist Ihr erster
Roman, der nicht in der Gegenwart spielt.
Madison Smartt Bell: "Diese Bemerkung von Douglas
Coupland ist extrem dämlich. Als Santayana sagte, daß diejenigen, die sich
nicht an die Vergangenheit erinnern können, dazu verdammt sind, sie zu
wiederholen, benutzte er dafür, soweit ich weiß, kein Telefon. Dasselbe gilt
für Stil und Technik... um nur zwei Beispiele zu nennen. Naja, vielleicht ist
dieses Zitat von Coupland auch aus jeglichem Zusammenhang gerissen - mir ist das
oft genug passiert... und manchmal erscheinen die klugen Sprüche, die man so
abläßt, nur noch halb so klug, wenn sie einem wieder begegnen."
Matthias Penzel: Was hat Sie dazu inspiriert, diesen
dreibändigen historischen Wälzer zu schreiben?
Madison Smartt Bell: "Geweckt wurde mein Interesse
durch eine Faszination mit Toussaint L'Ouverture. Für meinen zweiten Roman
recherchierte ich (1983) über Terrorismus. Da die Haitische Revolution so
wahnsinnig blutrünstig war, begegneten mir einige Unterlagen darüber und
schließlich eine kurze Biografie über Toussaint. Ich hielt einen Roman über
seine Karriere für eine gute Idee, sah aber sofort, wie kompliziert das wäre
(obwohl mir noch nicht klar war, wie kompliziert). Aber die Idee geisterte
weiter durch meinen Kopf."
Matthias Penzel: Ihre früheren Arbeiten schienen oft,
zumindest teilweise, von der Kindheit im ländlichen Tennessee inspiriert, sowie
von folgenden Jahren des Nomadentums durch die Staaten und Europa, das Leben in
Brooklyn und Baltimore. AUFSTAND ALLER SEELEN bewegt sich davon fort. Wie lange
hast du in Gedanken mit diesem Projekt gespielt, bevor du dich tatsächlich
hingesetzt hast, es zu schreiben?
Madison Smartt Bell: "Eine ganze Weile natürlich.
Ich dachte dauernd, es würde mein nächstes Buch, aber dann kam immer irgendwas
dazwischen, was leichter von der Hand ging. Zwischen Projekten recherchierte ich
immer ein bißchen. Ich machte mich schließlich daran, als ich KALTER SCHLAF
fertig hatte. Das müßte um 1989 gewesen sein. Ich habe eine Zeitlang
gleichzeitig an AUFSTAND ALLER SEELEN und BATTERY PARK HEIMWÄRTS (mit Kapiteln
abwechselnd), dann Gas gegeben, um das letztere abzuschließen, da ich einen
Scheck brauchte."
Matthias Penzel: Hast du mit Recherchen mehr Zeit
verbracht als bei vorherigen Werken?
Madison Smartt Bell: "Allerdings... Es ist die Sorte
Projekt, bei der die Recherche nie aufhört... das alleine ist ziemlich
faszinierend. Ich habe damit immer noch nicht aufgehört. Es gibt immer noch
mehr herauszufinden. Ein Vorteil ist, daß mein Französisch (zumindest auf
Papier) seither um einiges besser geworden ist - die meisten Quellen sind in
Französisch verfaßt."
Matthias Penzel: Mir scheint, daß in AUFSTAND ALLER
SEELEN Gewalt detailierter und farbenfreudiger dargestellt wird als in deinen
früheren Romanen und Short stories (beispielsweise die Szene, wo einer
Schwangeren der Bauch aufgeschlitzt wird, die Folter, bei der mit einem
Korkenzieher ein Augapfel aus einem Kopf gezogen wird). Siehst du das ähnlich?
Madison Smartt Bell: "Ja, die Gewalt in AUFSTAND
ALLER SEELEN ist wesentlich extremer als alles, was ich zuvor geschrieben
habe... aber andererseits basiert das alles auf Tatsachen. Vieles, worüber ich
gelesen habe, habe ich dabei immer noch weggelassen. Es ist wichtig, daß
Menschen dies einander angetan haben, es zeigt, könnte man sagen, um wieviel es
den Menschen ging. Es gab bestimmte Gesten, Paraden mit aufgespickten Kindern
zum Beispiel, die klar verdeutlichen, daß es in den Intentionen Völkermord
ging. Ich dachte, daß es letzten Endes nötig ist, diese Bilder zu zeigen, da
sie die wüstesten Aspekte des Kampfes verdeutlichen."
Matthias Penzel: Ist der Einfluß von Bret Easton Ellis'
AMERICAN PSYCHO - im besonderen der Gewaltbeschreibungen darin - weitreichender
als man es im literarischen Establishment wahrnimmt (oder zugibt)?
Madison Smartt Bell: "Ich fragte mich, ob hier bei
uns Vergleiche zu AMERICAN PSYCHO kämen, aber das war bislang nicht der Fall.
Ich hielt das Buch, als ich es das erstemal las, für lausig, für schlapp
formuliert - was überraschte, da Ellis zumindest als kluger Stilist aufgefallen
war - und im Grunde genommen nicht mehr als ein zynischer Versuch, nekrophile
Pornografie (ein Genre, das in den Staaten immer schon populär ist; das
Spektrum geht von POLICE GAZETTE bis KALTBLÜTIG) auf ein gehobeneres,
'literarisches' Level zu heben. In diesem Sinne trabte Ellis hinterher, war er
keineswegs anderen voraus - abseits der Belletristik gibt es in jedem Lädchen
etliche Bücher in dem Stil. Außerordentliche Gewalt kommt in der
Pop-Unterhaltung so oft vor, daß man sich wirklich bemühen muß, um damit noch
aufzufallen, denke ich...
Ich merke aber, daß ich mich an AMERICAN PSYCHO
wesentlich besser erinnere, als ich das erwartet hatte - ich rechnete damit, es
ganz schnell vollends zu vergessen. Vielleicht ist es als Satire ernstzunehmen,
frage ich mich. Einige der Szenen waren, wie ich mich jetzt erinnere, wirklich
sehr komisch. Ich halte Ellis für wirklich talentiert, obwohl er das, wie ich
denke, bisher meistens nicht in die richtige Bahn gelenkt hat...
AUFSTAND ALLER SEELEN ist allerdings keine Satire. Das
wäre ein Riesenunterschied zu AMERICAN PSYCHO... nur einer. Ich wußte, daß es
teilweise sehr schockierend wäre, berichtete aber andererseits nur über das,
wovon ich gelernt hatte, daß es tatsächlich geschah. Außerdem ließ ich mich
dabei auf eine gute alte Aristoteles'sche Katharsis."
Matthias Penzel: Sind die Kommentare über Bret Easton
Ellis als diplomatische Drahtseilakrobatik zu verstehen - da du ihn eigentlich
verachtest?
Madison Smartt Bell: "Nein, nein, ich würge hier
keineswegs Magensäure runter, wenn ich mich über Bret Ellis auslasse, wirklich
nicht. Um kurz darauf einzugehen: Ja, UNTER NULL wurde vermutlich völlig
überschätzt (wenige Bücher können solch einem Flächenbrand an Hype
standhalten), aber man sollte sich vor Augen halten, daß er das Ding 19jährig
fertigstellte - und es war eine sehr ehrgeizige Arbeit... Ich denke, es wäre
nur fair, zu sagen, daß er zu jenem Zeitpunkt ein Wunderkind war. Neben anderem
war UNTER NULL, würde ich sagen, ein sorgfältig artikulierter Hilfeschrei. Nur
kam keiner, um Ellis zu helfen - stattdessen wurde er, würde ich sagen,
während der folgenden Jahre recht gnadenlos und zynisch ausgenutzt. Sein
zweites Buch habe ich nicht gelesen. Ein Eindruck war, daß sich sein Handwerk
in AMERICAN PSYCHO drastisch verschlechtert hatte. Sein viertes Buch kenne ich
nicht. Das Problem mit Wunderkindern ist, daß viele von ihnen früh ausbrennen.
Falls Ellis ausbrannte, sollte hinzugefügt werden, daß viele Leute keineswegs
verlegen waren, Sprit ins Feuer zu schütten. Ich schätze aber, daß die
Chancen für ihn, als Künstler zu überleben immer noch 50/50 stehen, genauso
wie die Wahrscheinlichkeit, daß er mehr Talent und Willen hat, etwas
Authentischeres auszusagen als der durchschnittliche sogenannte 'Brat-packer'
(sind übrigens alle ein bißchen grau um die Schnauze geworden, nee?)."
Matthias Penzel: Waren die Gewaltszenen in AUFSTAND ALLER
SEELEN auch dazu gedacht, einigen endlos gehypten Brat-Pack-Schmierfinken zu
zeigen, wo der Spaten hängt - und wer es besser kann?
Madison Smartt Bell: "Wen kümmert's? Ich schreibe
primär für mich, denke ich, und sicherlich nicht, um anderen Schreibern etwas
vorzumachen. Das Unterholz wird immer voll von Scharlatanen und Mittelmäßigen
sein (manche davon äußerst erfolgreich). Aber es lohnt sich nicht, darüber
nachzudenken."
Matthias Penzel: Geht es dir beim Schreiben jemals auch um
solche Eitelkeiten - wie 'Mal sehen, wie die Kritiker hierauf reagieren, was das
Publikum hiervon hält'?
Madison Smartt Bell: "Selten, und dann nur auf sehr
oberflächliche Weise."
Matthias Penzel: Sollte man solche Eitelkeiten bekämpfen?
Was sollte ein Autor, was muß er bekämpfen?
Madison Smartt Bell: "Ich befürchte, daß fast alle
Autoren, wahrscheinlich alle Künstler, ungeheuer nach mehr und mehr Anerkennung
dursten, nach Lob und Belohnung verlangen, gleichgültig, wieviel sie erhalten.
Ich bin dafür genauso anfällig wie jeder andere, aber ich sehe es als etwas,
gegen das ich mich auflehne.
Was das Schreiben mit gewissen Publikumsreaktionen im
Hinterkopf betrifft - Nein, das mache ich nicht. Mit Sicherheit denke ich nicht
an ein Publikum aus lauter Rezensenten. Ich bin mir der wahrscheinlichen
Reaktionen des Lektors, der an allen meinen Büchern gearbeitet hat - Cork Smith
- bewußt, und in letzter Zeit auch ein bißchen der von Sonny Mehta, der unter
anderem ein sehr gewiefter Textredakteur ist. Ich weiß, daß ich früher oder
später deren Fragen beantworten muß - aber ich lasse mich beim Schreiben nicht
wirklich davon beeinflussen.
Dann bin ich mir manchmal auch darüber bewußt, daß es
alle möglichen, umstrittenen Reaktionen hervorrufen kann, wenn ein Weißer
über eine Revolution von Schwarzen schreibt... aber auch dieser Gedanke stand
mir beim Schreiben nicht sonderlich im Weg - jedenfalls so weit ich darüber
Kontrolle hatte."
Matthias Penzel: Nach den in AUFSTAND ALLER SEELEN
beschriebenen Grausamkeiten, den Plündereien und Brandstiftungen, den "bis
auf Fetzen vergewaltigten" Frauen, der verwaschenen Linie, wo Rebellion und
Protest gegen Ungerechtigkeit zu noch mehr Gewalt und Ungerechtigkeit eskaliert,
wunderte ich mich: Warum? Was ist der Grund dafür?
Madison Smartt Bell: "Es geht darum, daß Menschen
das alles sehr, sehr ernst genommen haben. Sie wollten nicht nur ihren Feind
besiegen, sie wollten ihn von diesem Planeten wegradieren.
Man versteht nicht wirklich, was bei der Haitischen
Revolution passiert ist, wenn man sich nicht zwei fundamentale Fragen vor Augen
hält: Wer zählt als menschliches Wesen? Und: Was ist überhaupt ein
menschliches Wesen?
Vor der Französischen und der Amerikanischen Revolution
war man sich keineswegs darüber einig, daß alle Menschen ein natürliches
Recht auf Leben, Freiheit, Glück etc. zu genießen hatten. Bei der Haitischen
Revolution wird dieser Umstand dadurch kompliziert, daß die Angehörigen dreier
unterschiedlichen Rassen sich nicht einig darüber sind, wer überhaupt als
Mensch gelten kann. Viele Europäer hielten Afrikaner für das Bindeglied
zwischen dem Affen und dem Menschen (was es ihnen erleichterte, Sklaverei zu
verteidigen). Die Europäer hielten die gens de couleur außerdem für etwas
nicht ganz Menschliches (trotz auf der Hand liegenden Verwandtschaft, was eines
der großen Kuriositäten der ganzen Geschichte ist). Was die Schwarzen
betrifft, schätze ich, daß sie die Europäer nicht als Menschen wie sich
selbst eingschachätzt haben, sondern als eine mächtige, gemeine Gattung von
Monstern. Sobald man sich dieser Situation bewußt ist (was bei mir eine gewisse
Zeit beanspruchte), kann man verstehen, warum sich die Menschen so
verhielten."
Matthias Penzel: Siehst du bei den im Buch beschriebenen
Phänomenen Zusammenhänge mit Bosnien (zeigend, daß solche Gewalttaten nicht
so neu sind, daß heute vielmehr die Art und Weise, wie darüber berichtet wird,
ausgeklügelter ist) oder denen der Aufstände in Los Angeles? Diese Bilder
kamen mir oft in den Sinn - sind das zufällige Parallelen, mein Mangel an
Phantasie oder hast auch du beim Schreiben an diese Bilder gedacht?
Madison Smartt Bell: "Ich habe keine Vergleich mit
dem Bürgerkrieg in Bosnien gemacht, auch im Zusammenhang mit dem Roman nicht
daran gedacht (Zum einen habe ich einige Zeit, bevor die Situation in Bosnien so
explodierte, an dem Buch gearbeitet, zum anderen geht es da nicht um einen Krieg
zwischen Rassen, wenn es wahrscheinlich auch einige strukturelle Ähnlichkeiten
gibt). Yeah, es ist in Bosnien Völkermord und... ich finde es wahnsinnig
deprimierend, ein Problem, das sich nie lösen lassen wird. Und ich habe meinen
Kopf aus diesem Grund mehr oder minder in den Sand.
Was die Unruhen in L.A. und so betrifft: Daran habe ich
mit Sicherheit gedacht (in der ersten Fassung des Kodas gab es Verweise darauf
sowie auf frühere Rassenunruhen in den USA). In den USA findet ein Rassenkrieg
in Zeitlupe statt; das ist an auf der Straße stattfindenden Verbrechen genauso
erkennen wie an polizeilichen Maßnahmen, die manchmal zu übergreifenden
Unruhen führen. Wir haben hier mit den Problemen zu tun, die eine ehemalige
Sklavengesellschaft so mit sich bringt; während das bei uns im Schneckentempo
abläuft, ging das in Haiti wesentlich schneller. Was uns hier betrifft,
schätze ich, sind wir von einer vernünftigen Lösung immer noch sehr weit
entfernt. Die Reaktionen auf das O.J. Simpson-Urteil belegen das."
Matthias Penzel: Ist physische Gewalt als Form des
Widerstands jemals gerechtfertigt?
Madison Smartt Bell: "Sicher. Ich kann richtig
enthusiastisch nach den Befriedigungen von Revanche verlangen (obwohl ich auch
imstande bin, Schuldgefühle zu entwickeln, sobald ich die Revanche eingelöst
habe). Als ich klein war, flog einmal ein Hahn in mein Gesicht, um mir meine
Augen auszupicken (er hatte es seit Wochen auf mich abgesehen), und mich
schließlich völlig blutüberströmt zurückzulassen. Ich durfte zusehen, wie
ihm der Hals umgedreht wurde. Wir aßen ihn am selben Abend. Bis auf den
heutigen Tag kann ich mich an kein Essen erinnern, das mich mehr
zufriedenstellte.
Ich neige also dazu, an Auge um Auge, Zahn um Zahn und all
das zu glauben, obwohl ich auch genug von der christlichen Ethik in mir trage,
um das als eine Charakterschwäche zu sehen. Ich schätze, ich wäre fähig, die
meisten der im Buch beschriebenen Dinge zu tun, unter den entsprechenden
Umständen. Unter anderen Umständen hoffe ich, wäre ich auch fähig gewesen,
dem zu widerstehen... Gewalt istz ein gefährliches Instrument, das letzten
Endes immer dazu dient, sich selbst mehr als dir zu dienen, aber manchmal sieht
man keinen anderen Ausweg."
Matthias Penzel: Nicht nur wegen AMERICAN PSYCHO, sondern
auch wegen Iain Banks' VERSCHWOREN, fast allem von James Ellroy, auch Ian
McEwans Sudelei in UNSCHULDIGE, frage ich mich, ob diese Zunahme an detailliert
dargestellter Gewalt in der Gegenwartsliteratur darauf zurückzuführen ist,
daß unsere Zivilisation aus den Angeln gerät, daß alle nach mehr Blut
dursten, oder daß das Kino im Laufe dieses Jahrhunderts die Sinne dermaßen
betäubt hat, daß es immer krasser zugehen muß, um das Publikum überhaupt
noch aus der Reserve zu locken - oder zu unterhalten? Oder was sind die Gründe
für immer gröbere Gewaltdarstellungen in der Literatur?
Madison Smartt Bell: "Ich habe nicht alle der
erwähnten Bücher gelesen, denke aber aufgrund derer, die ich kenne, daß das
gilt, was ich schon über nekrophile Pornografie mit unterschiedlich gebildeter
Herangehensweise gesagt habe. Es hat für viele etwas Befriedigendes, genauso an
Mord und Totschlag zu denken wie an Vergewaltigung - für ein paar weniger
(siehe Ted Bundy, etc.) hat die Tat selbst etwas Befriedigendes. Warum das so
ist, weiß niemand. George Garrett sagt, es sei Teil der animalischen Natur, die
in Menschen weiter existiert. Eine bessere Antwort fällt mir dazu auch nicht
ein.
Ich glaube nicht, daß die Gewalt in unserer Unterhaltung
allzu viel mit der Realität zu tun hat (indirekt vielleicht, wie im Falle der
Morlocks, die in New York U-Bahnwaggons angezündet haben, weil sie das im Kino
gesehen hatten). Auf der Suche nach neuen Thrills wird das stärker. Alle
Gesetze gegen Darstellungen von Sex wurden vor zwanzig Jahren abgeschafft. Jetzt
müssen die dargestellten Verhaltensmuster immer bestialischer und gewaltsamer
werden, damit es frisch bleibt und andere aus der Reserve lockt. Ziemlich
widerlich, wenn man sich das mal überlegt."
Matthias Penzel: Welche anderen Gründe gibt es für diese
Inflation der Gewalt in zeitgenössischer Literatur?
Madison Smartt Bell: "Was meinen Gebrauch von Gewalt
in Belletristik betrifft, schließe ich mich Flannery O'Connor an, die sagt,
daß es nicht darum geht, Gewalt um seiner selbst willen darzustellen, sondern,
um etwas anderes klarzumachen, meistens ein moralisches Problem, bei dem es um
Leben oder Tod geht - was ja im Leben tatsächlich oft genug vorkommt."
Matthias Penzel: Zu deinen früheren Werken. WASHINGTON
SQUARE, N.Y. erzählt die Geschichten von fünf Charakteren. Ungefähr hundert
Jahre früher schrieb Henry James WASHINGTON SQUARE, N.Y., einen Roman über
drei Charaktere; sein Thema war das des Jungen gegen die Tyrannei des
Älteren... Kanntest du Henry James' Buch und die Parallelen, als du - 24jährig
- WASHINGTON SQUARE, N.Y.?
Madison Smartt Bell: "Welche Parallelen? Ich sehe
kaum welche. Ich hatte WASHINGTON SQUARE vermutlich ein Jahr vorher gelesen
(recht locker und leicht verdaulich für Herrn James), war aber zu der Zeit vor
allem beeindruckt, wie drastisch sich sein New York von meinem unterschied - in
James' Roman führt man noch oberhalb von 67th Street die Kühe zum Weiden, Um
ein simples Beispiel zu nennen.
WASHINGTON SQUARE, N.Y. wurde unter dem Titel THE
STORYTELLING STONE geschrieben, was mir zugegebenermaßen immer noch besser
gefällt - diesen Titel wischte aber der Verleger vom Tisch, da er fand, daß
das zu sehr nach einem Kinderbuch klingt. Mein Lektor, Cork Smith, wollte es
WASHINGTON SQUARE nennen, um den Vergleich zu James initiieren. Ich hielt das
für eine interessante Idee, hatte aber Angst davor. Ich fand, daß das letzten
Endes zu viel Eitelkeit und Hybris von meiner Seite wäre, als daß ich mich mit
dem Meister... auf so freche Weise anlegen würde. Gleichzeitig focht ich gegen
wesentlich doofere Ideen an (einer aus der Marketing-Abteilung pochte darauf, es
FUFUE FOR FUZZ-BOX AND SAX zu nennen). Als nur noch vierundzwanzig Stunden bis
zur Drucklegung blieben, verbrachte ich einen Abend mit einem Jazz-vernarrten
Freund, mit dem ich mir Musik anhörte, die mehr oder minder mit dem Buch zu tun
hat, und suchte nach dem Titel eines Jazz-Stückes, der allgemeiner - und
vermutlich offensichtlicher - gewesen wäre. Deshalb bereue ich es bis heute,
daß wir nicht daran dachten, es THE SHOES OF THE FISHERMAN'S WIFE ARE SOME
BAD-ASS SLIPPERS zu nennen. Ich hätte noch eine Mingus-Szene für Porco
reinschreiben können, und die Sache wäre gegessen gewesen."
Matthias Penzel: Wie denkst du heute über WASHINGTON
SQUARE, N.Y.?
Madison Smartt Bell: "Ich bin mir nicht sicher; es
ist lange her, seit ich es das letzte Mal gelesen habe. Ich schätze, viel davon
ist einigermaßen okay. Es gab ein paar strukturelle Probleme, die damit zu tun
hatten, daß es ohne jeglichen Plot-Plan geschrieben wurde... mehrere
unterschiedliche Schlüsse schienen letzten Endes nötig etc. Ich schätze, daß
es besser ist als einige Roman-Debüts, aber nicht so gut wie andere."
Matthias Penzel: WARTEN AUF DAS ENDE DER WELT ist, was
Plot und Struktur betrifft, wesentlich besser, ausgereifter als das Debüt. Was
hat dich durch diesen düsteren Epos von geradezu russischen Proportionen bei
Sinnen gehalten?
Madison Smartt Bell: "Dostojewski. Mich haben viele
Schriftsteller beeinflußt, wenn ich aber einen hervorheben müßte, dann wäre
er das. Ich habe die großen Romane während eines Kurses über Dostojewski, den
Joseph Frank in Princeton gab, gelesen. Seither hatte ich vor, einen
zeitgenössischen Roman mit einem Protagonisten wie Kirilov zu schreiben. Im
US-amerikanischen Literatur-Establishment ist niemandem aufgefallen, wieviel
WARTEN AUF DAS ENDE DER WELT mit DIE DÄMONEN zu tun hat (im Klartext: Sie sahen
keinen Zusammenhang) - aber in England sprang es dem Kritiker vom 'Times
Literary Supplement' sofort ins Auge (und er verriß mich umgehend)."
Matthias Penzel: Keins deiner Bücher kam auch nur
annähernd an die brodelnden, düsteren Atmosphären, die auf immer tieferen
Ebenen in undurchschaubare Tunnel und unerforschte Untergründe vortasten und
-dringen. Keins ist vergleichbar mit diesem Mischmasch der scheinbar zufälligen
Anekdoten, die in einem glasklaren Plot und der Geschichte totalen Wahnsinns
kulminieren. Hast du je daran gedacht, dich noch einmal an Vergleichbarem zu
versuchen? Oder war WARTEN AUF DAS ENDE DER WELT ganz schlicht ein weiteres
Projekt, das du schreiben und abhaken wolltest?
Madison Smartt Bell: "Ich wollte meine Bücher immer
so unterschiedlich wie irgend möglich halten - niemals dasselbe Buch zweimal
schreiben, oder Variationen eines bestimmten Themas. Rückblickend erscheint mir
heute, daß die ersten einige Ähnlichkeiten aufweisen. Das war mir damals aber
nicht bewußt... Was das Abhaken betrifft - tja, auch mir gefällt WARTEN AUF
DAS ENDE DER WELT recht gut, als ich letzten Herbst, während der Promo-Tour
für AUFSTAND ALLER SEELEN aber wieder einmal DIE DÄMONEN las, um bei Verstand
zu bleiben, da wurde mir klar, daß... Welten dazwischen liegen. Ich muß schon
sagen, ich war einigermaßen beeindruckt von meiner Blauäugigkeit damals; auch
nur davon zu träumen, je so ein Buch zu schreiben... Von abgehakt kann deshalb
eigentlich nicht die Rede sein."
Matthias Penzel: EIN SAUBERER SCHNITT ist - für deine
Verhältnisse - fast ein Krimi.
Madison Smartt Bell: "Mit EIN SAUBERER SCHNITT wollte
ich mich an etwas versuchen, das ein ganzes Stück anders sein sollte als die
beiden vorherigen Bücher. Ich wollte immer herausfinden, wie man einen Plot
entwickelt, der geradeaus, ohne Umschweife und mit linearem Momentum entwickelt
wird, im Gegensatz zu den geometrischen ARRAYS und Subplots oder Konstruktionen
von früher. Das war also mein Versuch, so etwas zu machen. Ich würde nicht
sagen, daß es mein einziger Versuch Richtung Krimi war - WARTEN AUF DAS ENDE
DER WELT und WASHINGTON SQUARE, N.Y. sind auf ihre Art auch Krimis, außerdem
fand ich immer, daß ja auch Dostojewski in mancher Hinsicht ein Autor von
Krimis und Thrillers war (weshalb Nabokov die Nase über ihm rümpft, etc.).
EIN SAUBERER SCHNITT langweilte mich ein bißchen gegen
Ende. Ich denke, daß es im Sinne einer spannenden Story, die man einmal schnell
liest funktioniert - es hat ungefähr die richtige Länge für einen Linienflug
innerhalb der USA. Aber die literarischen Vorzeichen darin empfinde ich heute
als ziemlich peinlich. Es ist das einzige meiner Bücher, das mir eigentlich
mißfällt - aber das ist meine Undankbarkeit, denn es ist auch das Buch, durch
das ich in Europa 'bekannt' wurde; und es brachte mir einiges an Geld für
Filmoptionen ein. Ich glaube immer noch, daß es das Zeug zu einem brauchbaren
Film hätte. Für Thomas Kuchenreuther in München habe ich ein Drehbuch dafür
geschrieben, wodurch ich die Möglichkeit hatte, einige der Schwächen, die ich
im Roman sah, wegzubügeln. Aber ich fürchte, das Projekt hängt derzeit
fest."
Matthias Penzel: War das eine einmalige Sache?
Madison Smartt Bell: "Ich dachte, ich würde ein Buch
wie EIN SAUBERER SCHNITT nicht wieder machen, aber auf seine Weise ist KALTER
SCHLAF so etwas wie der Versuch, EIN SAUBERER SCHNITT richtig yu machen - mit
einem Ich-Erzähler, der in den Plot eines Thrillers verwickelt ist, ohne daß
es allzu linear entwickelt wird."
Matthias Penzel: Einige Deiner Romane und Short stories
handeln von Drogenabhängigkeit und davon, wie Menschen nach Heroinentzug,
versuchen, ihr Leben aufzufüllen, die Dämonen zu verscheuchen... Keine der
Stories behandelt auch nur ansatzweise die Gründe für Drogenkonsum, die
'angenehmeren' Seiten der Kicks. Auch in Rückblenden werden die glamourösen,
dekadenten Aspekte von Drogenkonsum verschwiegen - warum?
Madison Smartt Bell: "Was den Mangel an Glamour
betrifft, mag das daran liegen, daß ich mich nie sonderlich für Cocain
interessiert habe. Heroin ist eine wesentlich weniger glamouröse, nicht ganz so
gesellschaftsfähige Droge. Was die Wiederkehr des Themas betrifft... tja, ich
habe während meiner Zeit in New York meistens mit und Tür an Tür mit
Drogensüchtigen gelebt. Genauso wie du vielleicht auch, habe ich einen Haufen
Freunde, die viel extremere Drogenprobleme hatten als ich. Außerdem schätze
ich, daß ich mit dem ausgestattet bin, was man heute als 'Sucht-Charakter'
bezeichnet, wenn ich bisher auch nur von Zigaretten entziehen mußte (obwohl ja
jüngste Forschungsergebnisse darauf hindeuten, daß das eigentlich als ernste
Droge gerechnet werden sollte, was physische Abhängigkeit etc. betrifft). Das
wäre also noch ein Grund für mein Interesse daran.
Was die ursprünglichen Gründe für Drogenabhängigkeit
als weitreichendes soziales Problem betrifft - das handle ich detaillierter in
KALTER SCHLAF ab. Siehe Seite 125f. der Bloomsbury Ausgabe. Nicht atemraubend
originell, sicher - ich versuchte da, es in das kosmologische Schema der
Hermeneutik, die das Leben des Erzählers beherrscht, einzuordnen..."
Matthias Penzel: Die Short-story-Sammlung HEUTE IST EIN
GUTER TAG ZUM STERBEN dokumentiert nicht nur diese Faszination mit dem harten
Stoff und Drogisten auf Entzug, sondern auch ein anderes wiederkehrendes Thema
in deinen Arbeiten - das des (US-amerikanischen) Südens (und zwangsläufig des
fortbestehenden Rassismus trotz aller Schönheit des Landes). Alle Stories über
den Süden warten mit einer anderen, einer gemächicheren Gangart auf...
Inwieweit ist das beabsichtigt?
Madison Smartt Bell: "Der Unterschied des Tempos ist
vermutlich in keiner Weise geplant - nur ein Spiegel der Natur, würde ich
sagen. Ich bin auf einer Farm aufgewachsen und habe daher sowohl die langsamere
Gangart des ländlichen Lebens genauso in mir wie das Rucken und Zucken urbaner
Situationen..."
Matthias Penzel: Und dann sind da noch - natürlich - die
wiederkehrenden Brücken. EIN SAUBERER SCHNITT erreicht auf der Williamsburg
Bridge seinen Höhepunkt, an anderen Stellen finden sich Oden und Tribute daran,
ganze kleine Liebesgeschichten über ihre Parallelen, die architektonisch
besondere Schönheit von Brooklyn Bridge in JAHR DES SCHWEIGENS; dann wäre da
noch die Short story THE FORGOTTEN BRIDGE (wieder Williamsburg Bridge, die
übrigens auch in AUF DER SUCHE NACH NATASHA wieder aufkreuzt). Warum ist dieses
Thema - der Brücken, die meistens Manhattan mit Brooklyn verbinden - aus
Arbeiten jüngeren Datums verschwunden? Hat man angefangen, dich damit
aufzuziehen, ist die Metapher als solche ausgetrocknet oder gibt es in Baltimore
weniger Brücken, die solche Gedanken ermutigen?
Madison Smartt Bell: "Ich glaube, es ist immer die
Williamsburg Bridge - kann mich nicht an die Brooklyn Bridge in JAHR DES
SCHWEIGENS erinnern, die du da erwähnst. Tom Alderson, ein irgendwie
unterschätzter Romancier, der auch aus dem Süden kommt und zur etwa selben
Zeit wie ich in New York lebte, sagte einmal zu mir: 'Diese Brücke ist dein
weißer Wal'. Zumindest während jener Phase meiner Karriere war das zutreffend.
Ich versuchte, sie überall einzubauen, wo sich Gelegenheit dazu ergab; in einen
Zusammenhang im ländlichen Tennessee ließ sie sich natürlich nicht so leicht
einbauen, ebenso wie im Haiti des 18. Jahrhunderts etc. Es ist diese bestimmte
Brücke mehr als Brücken allgemein, die es mir angetan hat. Ich habe jahrelang
an ihrem Fuß verbracht, der J-Train nahm mich zu meiner Haltestelle in Brooklyn
mit, wenn ich pleite war oder einfach das Ticket aufsparen wollte, wanderte ich
auch oft darüber, manchmal war auch der Hauch von Gefahr das Ausschlaggebende
oder wegen die schlichte Schönheit - manchmal auch alle diese Gründe zusammen.
Ich schrieb immer wieder darüber, um sie als Ganzes oder in all ihren Phasen
einzufangen - auf ihre eigene Weise ist sie eine unerschöpfliche Resource für
mich. Es ist jetzt aber schon Jahre her, seit ich New York verlassen habe, und
jetzt schreibe ich nicht mehr so viel über die Stadt."
Matthias Penzel: JAHR DES SCHWEIGENS ist, trotz straffer
Konstruktion, wieder ein Ritt durch unterschiedliche Level und Lagen von
Rückblilcken und Erinnerungen. Was war hier die Prämisse? Ging es dir darum,
ein bestmögliches kaleidoskopisches, cuíneastisches Mosaik zu entwerfen?
Madison Smartt Bell: "Ah - eine Illustration sollte
das am besten veranschaulichen. Die Struktur von JAHR DES SCHWEIGENS ist am
besten mit einer Illustration darzustellen. Es geht um die Wogen und Wellen, die
ein Todesfall auslöst. Ich hatte lange den Plan, über die weiter reichenden
Folgen zu schreiben, die der Tod eines einzelnen auf andere hat - es sind eben
Wellen, die nach außen hin immer schwächer werden. Dann überlegte ich mir,
daß das Zentrum dieser Wogen, der Tod in der Mitte und nicht am Anfang des
Buches sein sollte. Dann kam mir die Idee, das zentrale Kapitel als Achse
einzusetzen, an der sich die anderen Kapitel jeweils spiegeln. Daher sind die
Kapitel 1 und 11, 2 und 10, 3 und 9 als Paare zu verstehen, die alle gewisse
formale Richtlinien gemeinsam haben; wie die Erzählweise in erster oder dritter
Person, außerdem bestimmte Kontinuitäten für den Plot und thematische
Qualitäten, die jeder selbst entdecken kann.
Das andere formale Ziel des Projekts war, einen aus lauter
Short stories bestehenden Roman zu schreiben, eine Mode, die damals fast zu
einem kleinen Mini-Genre wurde (siehe Louise Erdrichs LIEBESZAUBER, BEANS OF
EGYPT, MAINE von Carolyn Chute, PICKNICK AM RANDE DER WÜSTE von Harriet Doerr,
etc.). Ich hatte den Eindruck, die meisten dieser Beispiele begannen als
Erzählungen und wurden erst später zu Romanen zusammengeflickt, weshalb sich
manche Sektionen wie eigenständige Kurzgeschichten lesen, andere wie
Romanauszüge. Mein Plan war, ein Buch von Grund auf so zu gestalten, daß jede
Einheit darin sowohl als Geschichte in sich als auch als Teil des Romans
fungieren würde. Ich glaube sogar, daß mir das gelungen ist - so fesch und
formal ausgeklügelt wie sonst was, woran ich mich bisher versucht habe."
Matthias Penzel: In JAHR DES SCHWEIGENS treten auch die
Larkin-Brüder aus WARTEN AUF DAS ENDE DER WELT wieder auf. Schwebte Dir dabei
so etwas vor wie Balzacs COMÉDIENNE HUMAINE - oder Salingers Glass-Familie aus
FRANNY UND ZOOEY, HEBT DEN DACHBALKEN HOCH, ZIMMERLEUTE/SEYMOUR WIRD
VORGESTELLT, und NEUN ERZÄHLUNGEN?
Madison Smartt Bell: "Mein Vorbild war hierbei eher
Faulkner als Balzac, ganz einfach, weil ich Faulkner besser kenne. Beides wäre
aber denkbar. Ich glaube, daß fiktive Charaktere in parallelen Universen
weiterleben können (insofern sie nicht gestorben sind) und deshalb in späteren
Werken wieder auftreten dürfen.
Salinger als Einfluß für die Larkins oder sonstwas
möchte ich mit aller Entschiedenheit abweisen. Mit Holden Caulfield komme ich,
gerade noch, klar, sämtliche Mitglieder der Glass-Familie sind aber viel zu
krankhaft und auf pathetische Weise zuckersüß, was meinen Geschmack
betrifft."
Matthias Penzel: Auch Charlie in BATTERY PARK HEIMWÄRTS
kommt wie ein entfernter Verwandter der Larkins rüber - ist das lediglich meine
Meinung oder hast du da mit dem Gedanken gespielt, mindestens einen Cousin zu
rehabilitieren?
Madison Smartt Bell: "Sauber ausgemacht, was BATTERY
PARK HEIMWÄRTS betrifft; Charlie ist in der Tat der Charles Mercer von WARTEN
AUF DAS ENDE DER WELT. Es gibt einige handfeste Belege wie die Narben der von
seinen Fingern entfernten Tätowierungen. Er war immer ein Charakter, den ich
erneut einsetzen wollte; so als Gag für Insider. Du bist scheinbar der erste,
der das wahrgenommen hat oder zumindest der erste, der es mir sagt (du mußt
demzufolge ein un obsédé vrai sein...)."
Matthias Penzel: Dein 'Südstaaten-Roman' SOLDIER'S JOY,
der 1989 mit dem Lillian Smith Award ausgezeichnet wurde, ist das einzige deiner
Bücher, das noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Warum?
Madison Smartt Bell: "Ob noch was daraus wird, hängt
zum Teil vermutlich vom Erfolg von AUFSTAND ALLER SEELEN ab. Der Goldmann Verlag
verhielt sich mir gegenüber lange sehr loyal und war auch großzügig -
vielleicht allzu großzügig aus der Sicht der Buchhaltung. Gegen SOLDIER'S JOY
sträubten sie sich, glaube ich, wegen der Länge und der
Übersetzungsschwierigkeiten, die bei einem Roman, der wesentlich weniger
deutsche Leser ansprechen würde als Stories aus New York, vermutlich nicht zu
rechtfertigen wären."
Matthias Penzel: Da die Elemente des Plots von KALTER
SCHLAF so sauber und strategisch plaziert sind, frage ich mich, ob das dein
erster auf einem Computer geschriebener Roman war?
Madison Smartt Bell: "Interessant, daß du
dahingehend spekulierst, denn das war tatsächlich der Fall. Alle meine
vorherigen Bücher habe ich mit der Schreibmaschine getippt. Ich benutze aber
nur einen Computer, um mir die Zeit des erneuten Abtippens zu sparen - ich
tendiere ohnehin nicht dazu, allzu viel Zeit mit Revisionen zu verbringen,
außer wenn nötig. Ich schreibe ein Kapitel als erstes mit der Hand, dann tippe
ich es, drucke es, poliere den Ausdruck, drucke es noch einmal und lege es in
einen Kasten, bis der voll ist. Für den Aufbau von KALTER SCHLAF habe ich keine
Computer-Funktionen eingesetzt... Vielleicht gab es unbewußte Einflüsse.
Bewußt stand ich unter dem Einfluß einiger anderer Bücher mit ähnlich
präzisem Aufbau: UNTER DEM VULKAN, THE STARS AT NOON (Denis Johnson), THE
HORSE'S MOUTH (Joyce Cary), JANINE, 1982 (Alasdair Gray)."
Matthias Penzel: In einem von Justin Cronin auf dem
Internet veröffentlichten Interview sagst du, daß KALTER SCHLAF für dich
sowohl Meisterwerk als auch Meisterflop ist. Geriet es letzten Endes allzu
perfekt und präzise?
Madison Smartt Bell: "Ich halte KALTER SCHLAF für
das beste meiner ersten Bücher, also bis AUFSTAND ALLER SEELEN. Es ist der
Abschluß eines Trends und der Höhepunkt von etwas, woran ichmich in allen
vorherigen Büchern versucht habe... allen haben sie eine gewisse spirituelle
Suche gemeinsam. Grob betrachtet war KALTER SCHLAF eine Rückkehr zu EIN
SAUBERER SCHNITT - will sagen, der Versuch, einen Roman linear nach vorne zu
entwickeln mit dem Plot eines Thrillers, der mich beim Schriebn trotzdem nicht
zu Tode langweilt - wie es bei EIN SAUBERER SCHNITT der Fall war... Es nimmt
einen beim ersten Mal wohl so mit wie EIN SAUBERER SCHNITT, offenbart aber,
denke ich, auch beim wiederholten Lesen immer wieder Neues.
Von handwerklichen Feinheiten abgesehen, hatte KALTER
SCHLAF auch mehr mitteilenswerte Inhalte, wie ich fand... als mich die
Leidenschaft packte, mich für Brunian Hermetic gnosis als der richtigen und
vernünftigsten Religion unserer Zeit einzusetzen (was sie auch wirklich ist...
nicht, daß das irgendwen interessieren würde)... Wenn ich es also als
Meisterflop bezeichne, dann in dem Sinne, daß ich damit so viel Erfolg hatte
wie Bruno - ich sagte exakt, was ich sagen wollte, erzielte damit aber keine
Wirkung. Unterm Strich war er vielleicht erfolgreicher, denn die Herrscher
seiner Zeit verstanden ihn immerhin gut genug, um sich klarzumachen, daß sie
ihn besser um die Ecke bringen... was sie auch gemacht haben. Stillschweigen ist
dagegen, auf lange Sicht, die tödlichere Strafe."
Matthias Penzel: Kann man Schreiben unterrichten?
Madison Smartt Bell: "Nicht wirklich. Die meisten
Autorenseminare in den USA begnügen sich damit, den Leuten die Gelegenheit zu
geben, sich das Schreiben selbst beizubringen; in möglichst netter Umgebung und
in Gegenwart einigermaßen intelligenten Publikums, das auf die Arbeiten
reagiert. Und das ist genug. Ich selbst bin ein Produkt dieses Systems, und ich
unterrichte darin. Obwohl ich denke, daß dabei nicht immer alles gut ist, halte
ich es für einen brauchbaren Weg, Studenten die Möglichkeit zu geben, dabei zu
sehen, was machbar ist und was nicht. Manche Lehrer/Gurus/Sektenführer gehen
weiter, und das beinhaltet dann Techniken von Hirnwäsche, Gedankenkontrolle und
vielen anderen, gefährlichen Eingriffen in die psychische Intimsphäre von
Leuten - so wie ich das sehe."
Matthias Penzel: Woran arbeitest Du zur Zeit?
Madison Smartt Bell: "Mein Plan (für die nächsten
zehn Jahre) ist, zwischen den langen Bänden der Haiti-Serie kleinere Romane der
Gegenwart einzuschieben - eine davon, TEN INDIANS, erscheint in den USA diesen
Herbst <check with bell!!!>. Es ist ein sehr kurzes Buch, das ich nach AUFSTAND
ALLER SEELEN quasi zum Luftholen geschrieben habe, einfach, um mit unserer Zeit
in Verbindung zu bleiben - wenn ich mich während der nächsten fünfzehn Jahre
nur im 18. Jahrhundert aufhalte, käme ich dabei sonst noch wie Rip Van Winkle
raus.
Außerdem habe ich auch schon ein paar Sachen für THE WAR
OF KNIVES geschrieben, was der mittlere Band der Haiti-Trilogie wird. Ich muß
dafür noch viel recherchieren. Ich hoffe und bete, daß die politische
Situation in Haiti nocht kollabiert, in erster Linie für die Leute, aber auch
für mich, denn ich würde dort gerne noch etwas Zeit verbringen - inzwischen
habe ich da einige wesentlich bessere Verbindungen und Quellen vor Ort; und es
gibt noch so unheimlich viel zu lernen."
Matthias Penzel: Die Kurzgeschichtensammlung HEUTE IST EIN
GUTER TAG ZUM STERBEN erschien 1987, nach Deinen ersten drei Romanen, der
Nachfolger, AUF DER SUCHE NACH NATASHA, 1990, nach zwei weiteren Romanen; heute,
drei Romane und sechs Jahre später müßten genügend Sachen für eine weitere
Sammlung in der Schublade liegen!
Madison Smartt Bell: "Tja, Deine Rechnung stimmt,
aber ich habe höchstens genügend Material für ein halbes Buch, nicht mehr.
Trotzdem ist da zur Zeit tatsächlich ein Buch mit Stories über musikalische
Themen in der Mache, das dann ZIG-ZAG WANDERER heißen soll. Aber ich habe in
letzter Zeit nicht mehr soviele Kurzgeschichten geschrieben wie früher, weiß
also nicht, wann es dazu kommt. Eine Story zu schreiben ist anders als einen
Roman, und es verlangt möglicherweise nach einer anderen Sorte Talent. Eine
Story kann man mit einer einzigen Eingebung schreiben, ohne daß einen die
Schwerstarbeit, die mit einem Roman verbunden ist, umhaut - das hat was für
sich, hat sich bei mir in letzter Zeit aber einfach nicht so oft ergeben. Zum
Teil wohl aus Zeitmangel - Ideen für Geschichten, an denen ich früher ein paar
Tage gesessen hätte, kommen mir immer noch - aber irgendwie komme ich nicht
dazu, sie zu schreiben..."
Matthias Penzel: Dein Web-site (mbell@goucher.edu) ist
recht beeindruckend. Was hast Du zu modernen Technologien wie dem Internet zu
sagen?
Madison Smartt Bell: "Ah ja, das Internet. Nicht
leicht, die weitreichenden Folgen davon zu unterschätzen, schätze ich.
Abgesehen von einigen Enttäuschungen und Überraschungen, die ganz
selbstverständlich noch kommen werden. Ich denke aber, daß es zu einer
wahrhaft fantastischen Informationsquelle werden wird, was es zum Teil ja schon
ist... zur besten, die uns unsere Technologien bis heute bescheren konnten...
bis unsere Zivilisation dem Beispiel von Mu und Atlantis folgt, was sie mit
Sicherheit in nicht allzu weiter Ferne tun wird."
Matthias Penzel: Siehst Du es wie beispielsweise einige
Cyberpunks als radikal demokratisches Mittel für aufstrebende Autoren, sich
mitzuteilen?
Madison Smartt Bell: "Eins der schönen Dinge am
Internet ist, daß es dort Zensur kaum geben kann, egal, wie sehr sich manche
Deutschländer immer wieder daran versuchen. Wie Du weißt, greifen diese
Maßnahmen nicht, denn im selben Moment, in dem die entsprechenden Autoritäten
CompuServe dazu gebracht haben, 'Unreines' aus ihrem Programm zu entfernen, in
dem haben andere gewiefte Net-Surfer Wege ausgetüftelt, durch die man an
dieselben Inhalte kommt - was dann auf CompuServe newsgroups zu erfahren ist.
Auf der anderen Seite, Vor- oder Nachteil, kann man nicht
umhin festzustellen, daß das Internet die weltweit größte Messe von
Selbstverlegern ist, neben anderem. Diese Entwicklung sehe ich weder als gut
noch als schlecht an. Mit den guten Sachen, die man finden kann, gibt es viel
Mist und den wird es immer geben. Macht ja auch nix. Läßt sich nicht
vermeiden, solange es Menschen gibt, die gewillt sind, das zu tippen. Und daß
sich das nicht vermeiden läßt, ist letzten Endes vermutlich eine gute Sache.
Aber der Computer wie das Internet wird, glaube ich,
niemals das gedruckte Buch ersetzen. Obwohl die Leichtigkeit, mit der man dort
Informationen erhält, theoretisch weit überlegen ist, bleibt es in der Praxis
doch unangenehm, auf einem Bildschirm mit Scroll usw. Texte zu lesen. Das
gebundene, gedruckte Wort ist eine technologisch einwandfreie Erfindung, die zu
ersetzen nicht einfach wird... solange es um mehr als ein paar geschriebene
Seiten geht. Das Buch macht es den Augen einfacher, ist besser zu handhaben und
leichter vollzukritzeln.
Sobald es jemandem gelingt, vernünftige Software zu
entwickeln, mit der man Bücher drucken und binden kann, eins oder mehrere
gleichzeitig - würde das das Verlagsgeschäft sicher von Grund auf
revolutionieren... und vielleicht verbessern. Das halte ich für möglich."
© 1996-2004 Matthias Penzel, London, Berlin
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1983 WASHINGTON SQUARE, N.Y. (1990 bei Goldmann
TB: ISBN 3-442-09445-3)
1985 WARTEN AUF DAS ENDE DER WELT (1989 bei
Goldmann hardcover: ISBN 3-442-30389-3)
1986 EIN SAUBERER SCHNITT (1988 bei Goldmann TB:
ISBN 3-442-09635-?. Goldmann hardcover: ISBN 3-442-30094-0. 1992 als Goldmann
Krimi: ISBN 3-442-05197-?)
1987 HEUTE IST EIN GUTER TAG ZUM STERBEN (1989
bei Goldmann TB: ISBN 3-442-09288-4)
1987JAHR DES SCHWEIGENS (1990 bei Goldmann TB:
ISBN 3-442-09557-2)
1989 SOLDIER'S JOY (nur auf Englisch, bei Ticknor
& Fields, New York)
1990AUF DER SUCHE NACH NATASHA (1992 bei Goldmann
TB: ISBN 3-442-41149-?)
1991 KALTER SCHLAF (1992 bei Goldmann TB: ISBN
3-442-41150-?)
1993 (1996 bei Goldmann TB: ISBN 3-442-42737-1)
1995 AUFSTAND ALLER SEELEN (1996 bei Zsolnay:
ISBN: 3-552-04805-7)
199? NARRATIVE DESIGN: A STRUCTURAL APPROACH FOR
APPRENTICE WRITERS
1997 TEN INDIANS
-> Madison Smartt Bell at Web del Sol
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