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Matthias Penzel

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Kindstage in Ketten
  - Intro
  - Kapitel 2
 Hypertextpuzzle (kit)
  -(kit) nonJava

Erzählung
www.bankraub.com

Interview
Madison Smartt Bell
Rudy Rucker  

KINDSTAGE IN KETTEN
DER ROCK'N'ROLL-ROMAN

Kapitel 2

"You and me
I can see us dying"
No Doubt: "Don't Speak" - TRAGIC KINGDOM

 

* * *

      Die Kapuziner Gasse lag, befand Niet, in einer geradezu klassischen Umgebung für eine progressive WG im Zeitalter nach Tschernobyl. Es war der vorletzte Häuserblock voller Gastarbeiter und Malocher, der die Randbezirke der alten Innenstadt von dem Stadtteil abgrenzte, in dem die wohnten, die bis ins Pensionsalter von Gehaltserhöhung und Eigenheim im Grünen träumten. In der Kapuziner Gasse wohnten nur die, die auf Zwischenstation waren, die wußten, daß der anhaltende Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg kein Garant für seine Verwirklichung war.

      Kapuziner Gasse 15a ähnelte nicht im geringsten jenen Elfenbeintürmchen der 68er Generation. Es war nicht eine jener malerischen Altbau-WGs mit allwöchentlichem Plenum und Alibi-Arbeitskreisen, in denen dann aber der Kühlschrank vollgestopft war mit Sonderangeboten von Aldi, der Schuhschrank mit Sandalen, die ein Nazi herstellte; Schuhwerk, das sich entsprechend lautlos jedem noch so verformten Fuß anglich.

      Kapuziner Gasse würde niemals - attestierte auch Mattau - zu dem gerinnen, was den WGs der 68er Mitte der Siebziger widerfuhr: RAF gerade am Versagen und Verzagen, wird die schnieke Wohnung mit Stuck-Verzierungen von dem Kommunenmitglied übernommen und flugs darauf saniert, das sich als oberster Sturkopf behauptet. Oft genug war das dann auch der einzige, dem der Sprung in den gehobenen Beamtendienst gelungen war.

      Niemand in der Kapuziner Gasse kaufte bei Aldi. Tom, der Punk, klaute dort höchstens, Carmen jobbte im Kornfeld, einer Art Reformhaus für Besserverdienende. Von dort brachte sie regelmäßig Körner und Rezepte mit, die Niet höchstens betrachtete. Jeder in der Kapuziner Gasse lebte und ließ leben. Eine gemeinsame Haushaltskasse gab es nicht, der Kühlschrank war fast immer leer.

      Seit Niet vor etwa zwanzig Stunden vom Flughafen hierher gekommen war, war er niemandem begegnet. Er schob Taschen und Koffer in eine Ecke mit Plakaten, Wäsche und anderen Utensilien auf Zwischenstation zum Müll. Hier war es kurz nach Mitternacht, nach australischer Zeit war es neun Uhr morgens. Während dem Flug wie in einer zu kalten Zigarettenschachtel geschlafen, genehmigte er sich einen zollfreien I.W. Harper, der aussah wie ein Doppelter, ihn aber auch nicht aufzuwecken imstande war, drehte einen Joint, den er nicht mehr anzündete, denn schon umarmte und verschlang ihn seine Matratze.

      Als er nach seinem Treffen mit Mattau wieder zu Hause ankam, war es schon Abend, das Leben in Sydney auf der schöneren Seite von Mitternacht. Dort begann es jetzt herbstlich zu werden, auch wenn man davon wenig merkte. Heute war Donnerstag, Sonntag sollte es nach New York gehen, nächste Woche weiter westwärts. Er konnte sich also heute mit Sheila treffen, morgen ausschlafen, abends die itinerary, den Zeitplan für die Tour, bei Cat abholen. Equipment mußte diesmal nicht gepackt werden, da das bereits von Australien nach Kalifornien verschifft worden war. Freitag abend könnte er mit Sheila Essen gehen, Samstag war also noch frei. Vielleicht würde er Mattau bitten, ihm seinen Laptop auszuleihen.

      In der Küche setzte er Wasser auf und schüttete das restliche Kaffeepulver in die Kanne. Müßte genügen für vier Tassen. Er steckte sich eine Zigarette an, nahm den Cassetten-Recorder und drückte die Aufnahmetaste - REC.

      Daß es schwer fällt, eine Gruppe Leute zu verlassen, eine Freundschaft zu kündigen, ist klar. Ebenso klar, wie es meist schmerzvoller ist, eine Freundin zu verlassen, als von ihr verlassen zu werden. In seinem Zimmer steckte er eine andere Cassette in den Recorder; auf dem Etikett der einen stand Ein Fälle Ein Drücke, auf dem der anderen Songs & Lyrics.

      It's so hard to say goodbye, sang er in das Mikrofon, and so easy to say hello. Nein, lieber to-say-hel-lo; eher abgesetzt, leichtes stakkato, das erste in seichterem legato. Oder vielleicht 'but so easy... - but...'? Er nahm seine Gitarre, suchte nach den Griffen. Mit den gefundenen Noten war er einigermaßen zufrieden. Er nahm sie auf und überlegte, wie er den Klang beschreiben sollte, den er sich dazu vorstellte. Ein bißchen mit dieser Melancholie von Beatles' Eleanor Rigby, nur maschineller gespielt, eher unterkühlt. Er war überzeugt, daß auch dies eine der Ideen war, die die anderen in der Band zwar verstehen würden, nicht aber zu spielen bereit wären.

      Während er um das Grund-Riff herumzupfte, nach Variationen suchend, sah er sein von Spiegelscherben zersplittertes Gesicht - den halben Mund, mehrmals das rechte Auge. Er legte die Gitarre beiseite und ging in die Küche.

      Im Topf kochte noch ausreichend Wasser für eine Espresso-Tasse. Beim Eingießen mußte Niet an Mattau denken, der immer gewitzelt hatte, daß er Wasser ganz allgemein dafür dankbar ist, daß es nicht auf dem Topfboden anbrennt - ja, Mattau - war schon 'ne Nummer. Mattau, Niets letzte Boje in einer Seenot, in der ihm das Steuer immer mehr aus der Hand geriet. Mattau, der Studierende. Mattau, dem er seinen eigenen Schulabschluß zu verdanken hatte. Mattau mit seinen hölzernen Philosophien, Mattau mit seiner... Diplomarbeit. Niet fluchte, kein einziges Mal hatte er ihn heute nachmittag gefragt, wie es ihm während der letzten Monate ergangen war, ob er sich mit seiner Nicole wieder eingerenkt hätte, wie es mit seiner Diplomarbeit voran ginge

      Das Telefon war sonderbar schnell zu finden, wie Niet feststellte, als er das Kabel - ausnahmsweise - nicht von der Buchse im Flur quer durch drei Zimmer, Bad bis aufs Dach verfolgen mußte.

      Er hob ab und hörte: nichts. Leitung tot, sagte er, drückte sein Aufnahmegerät auf REC und sagte es noch einmal. Leitung tot, alle ausgeflogen.

      Er griff sich seinen Walkman, legte It's So Easy ein und verließ das Haus.
 

* * *

It's So Easy, der Song des Punks in Hollywood, des schlaksigen Bassisten, dem zu viel in den Schoß fällt, der sich, nur um seine Eroberungsinstinkte zu erfreuen, immer seltsamere Frauen sucht. It's So Easy, eigentlich die Hymne der verwöhnten Generation, die sich für all den Luxus und Komfort nie bedankt hat. Niet fand, manches an dem Lied erklärte, weshalb er an Sheila genau das als anziehend empfand, was seine Freunde als zickige Macken bezeichneten.

      Ein Buch über Rock'n'Roll, sein Rock'n'Roll-Roman müßte auf solche Überlegungen eingehen. Wie kann ein Buch eine Leidenschaft dokumentieren, ohne darauf einzugehen? Und doch: Heißt das, nur weil man etwas liebt, daß man befähigt ist, darüber zu schreiben? Die Liebe zur Musik alleine ist ja auch nicht unbedingt die Eintrittskarte in eine Band, die bloße Liebe keine Garantie, daß die Muse kommt, einen in die Arme nimmt und einem Inspiration einhaucht. Scheiß drauf, es ist die Hingabe, die Einstellung, die Türen öffnet. Im Rock'n'Roll jedenfalls.

      Und von dieser Einstellung strotzt It's So Easy, das er das erste Mal hörte, damals, als die Heizung kaputt war, er kein Geld hatte. Statt dessen einen Pilz und diesen Job. Beides brachte ihn dazu, wieder Bukowski zu lesen. In jenem Winter der fremden Betten, des kalten Zimmers. Die meisten Songs der Platte verstießen gegen ein Dutzend eiserner Regeln: Das Timing schwankte, wie man es seit Jahren nicht mehr gehört hatte, das F-word schrie aus jedem Song, die Gitarristen besudelten sich mit zu langen Improvisationen... Alles Sachen, die sich nicht gehörten, die man nicht zu machen hatte. Und sie verkauften und verkauften und verkauften das Ding. So viele Exemplare, daß jeder Einwohner in München, Berlin und Hamburg, aber wirklich jedes Kind, jeder Schupo, jeder Rentner eins haben könnte. Und dann wären immer noch genügend Platten übrig, um drei, vier andere Millionenstädte damit zu überschütten.

      Vielleicht war das mit dem Roman doch nicht so die klasse Idee - musikalisch hat er es immer noch nicht geschafft, das gleißende Licht auf Tonträger zu bannen, wie kann er in so einer Situation daran denken, das Medium zu wechseln? Sicher, ist okay, in anderen Gewässern rumzupaddeln, aber es ernsthaft der Öffentlichkeit zum Verriß vorlegen? Wenn er zum Beispiel malte, nicht mit Kuli oder edding kritzelte, sondern mit Wasserfarben auf teurem Papier richtig malte, dann hatte er immer noch jedesmal den Eindruck, er durchlaufe während wenigen Minuten so viele Stilrichtungen wie kaum ein Künstler in seinem Leben: Von Impressionismus über hastige expressionistische Skizzen des Hintergrunds, hin zu abstrakterem Surrealismus, die seine unbeabsichtigten Ausrutscher oder Schmierer entschuldigen sollten. Am Ende kam das Bild vor ihm dann wie eine völlig abstrakte, eher nach Collage aussehende, Montage der Moderne. Allein mit Pinsel und Ruhe konnte er darüber lächeln, über seine übergesunde Selbsteinschätzung, die immer wieder Treibstoff für jegliches künstlerisches Schaffen war - so was aber der Öffentlichkeit zum Fraß und Verriß vorwerfen?

      Was den Rock'n'Roll-Roman aber betrifft, für den er multimedial arbeiten wollte, wo er sich drei Phasen vorgestellt hat, Notizbücher, Cassetten, transkribierender Computer, wo das Endresultat CD, Comic-Strips und Drehbuchanweisungen beinhalten sollte... Vielleicht waren seine Möglichkeiten da doch eher so wie das unbeholfene Werkeln von Amateuren.

      Aber auch das hat ja was. Aus welchen anderen Gründen waren Hanoi Rocks so gut, Beatles' Revolver so wichtig?
 

* * *

In der Telefonzelle drückte er Mattaus Nummer - es meldete sich niemand. Während er zurück zur Kapuziner Gasse ging, bemerkte er, daß die Sonne sich für heute verabschiedet hatte. Und kein einziges Mal hatte er sie sich richtig betrachtet und daran gefreut.

      Aus einem türkischen Gemüseladen kam eine Frau mit knöchellangen Jeans, schwarz. Umhüllt von einem Geruch, den Niet nicht näher analysieren wollte, und dem zerbestenden Bausch einer wilden Löwenmähne. Platinblond. Jetzt hatte er es: Haarspray mit zu viel Alkohol; trocknet die Haare aus, dachte er sich. Welche Haarfarbe sie an anderen Körperstellen haben mochte - wie die Sonne?, mal gleißendes Gelb, dann dunkelst wie bei Nacht. Oder glühendes Rot? Oder vielleicht so gleißend, daß man kaum hinsehen konnte?

      In einem Schaufenster sah er, wie jemand mit einem langen Messer von einem Gyros-Spieß Fleisch abschnitt. In der Luft lag der Geruch von angebranntem Lammfleisch, Sommer, Urlaub, wenig Gepäck und alten Turnschuhen.

      Zurück im Haus, klebte am Briefkasten ein gelber Zettel von der Post - 'Bitte sofort öffnen!'. Aha, die nächste Mahnung für nicht-bezahlte Telefonrechnung. Im Briefkasten befand sich aber lediglich ein Telegramm. hallo Ausgestiegener +++ melde dich +++ sofort +++ Flug fr 10:35 +++ Cat.

      Los Angeles. Big business. Zu dem Showcase würden geladene Vertreter amerikanischer Plattenfirmen kommen, um endlich ShamPains chaotische Vertriebssituation in den USA und Kanada aufs richtige Gleis zu bringen. Alles Wichser - nach Niet.

      Während man sich vorne auf der Bühne abrackert, stehen die dann tierisch weit hinten am Tresen, unterhalten sich über ihre neuste Sonnenbank, den Golfplatz vom Bel Air Country Club im Vergleich zum Hillcrest, erörtern, welcher Japaner in der Stadt derzeit am besten Sushi zubereitet, und wie sie gerade an ihrem absolut fantastischsten, größten Ding überhaupt dran sind. Zu 99% waren das abgestürzte Profimusiker, die niemals über den Auftritt vor Freundinnen und Familie im Proberaum herausgekommen waren. Wenn man sie persönlich in ihrem Office traf, wippten sie zum Sound der Demo-Cassette mit den Füßen und dem Kopf, nur um einem danach, mit verzogenem Mund, zu erklären, daß das Budget der Firma begrenzt sei, müßt ihr verstehen, ich bin hier ja auch nur ein einzelner Angestellter in einem großen Betrieb, wenn auch der einzige, der auf... solche Musik steht, sozusagen der Heavy Metal in der Firma. Und vielen Dank, ich werde mich melden. Dann kam in der Regel die blonde Sekretärin ins Zimmer, stellte die unberührten Kaffeetassen aufs Tablett und sagte dem Heini, er werde erwartet und, ach ja, ein gewisser, na, du weißt schon - Hm? - Frank habe angerufen. Stöhnen vonseiten des Talententdeckers - Nun ja -, ein erklärendes, entschuldigendes Lächeln. Der Heini stand dann auf, verwirrte dadurch den Heiligenschein aus Sonne, der ihn bis eben umgeben hatte, drückte jedem die Hand. Mancher verwies noch kurz darauf, es ruhig doch auch mal bei anderen Firmen zu versuchen, nicht aber zu unterschreiben.

      Die Telefonzelle war besetzt. Niet setzte sich auf das Mäuerchen daneben und sah den lärmenden Kindern beim Toben zu. "Hey Winnetou", brüllte jemand. "Warum hast du lange Haare?" fragte ein Junge, der sich neben ihn hockte. Alle möglichen Leute sprachen Niet auf der Straße an und fragten ihn nach allen möglichen Sachen. Immer schon.

      "Ja, warum eigentlich?" sagte er und sah dem Kind ins Gesicht. Der Junge starrte auf Niets Haare, als untersuchte er gerade das erste Mal eine tote Taube - plattgefahren, die letzten Federn im Wind wehend.

      "Ja, vielleicht mache ich sie ja auch ab - irgendwann."

      Der Junge lachte, rieb sich mit den Händen die Schenkel. Daß Niet hier einige Monate lang nicht gewohnt hatte, war keinem der Kinder aufgefallen. Er preßte die Lippen zusammen, nickte, dachte an dies, dachte an das. Und lächelte. Aus dem Stiefelschaft zog er seine Zigarettenschachtel.

      Beide sagten nichts, der Blick des Jungen setzte sich fest an den mit Metall verzierten Leder-Riemchen seiner Stiefel. Nein, warum die nun da sind, das kann ich wirklich nicht erklären, dachte Niet. Ob sich Indianer auch solchen Schund von den Buffalo Bills andrehen ließen?

      Den Jungen schien der Dreck der Stiefel allerdings viel mehr zu faszinieren als die blechernen Anhängsel - vorsichtig kratzte er unter seinem Schuh. Niet tippte zweimal, so daß die Kettchen leise klirrten. Australischer Dreck, dachte er, ob ihn das interessieren würde? Wie hatte er sich Australien vorgestellt, als er so klein war, vor - na, sagen wir mal - fünfzehn bis zwanzig Jahren?

      "Wie alt bist du?" fragte Niet den Jungen.
      Der lachte kurz, stand auf und rannte davon.

 

© 1996-2004 Matthias Penzel, London, Berlin