kit/Matthias Penzel
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Kindstage in Ketten
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Hypertextpuzzle (kit)
-(kit) nonJava
Erzählung
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Interview
Madison Smartt Bell
Rudy Rucker |
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KINDSTAGE IN KETTEN
DER ROCK'N'ROLL-ROMAN
Kapitel 2
"You and me
I can see us dying"
No Doubt: "Don't Speak" - TRAGIC KINGDOM
Die Kapuziner Gasse lag, befand
Niet, in einer geradezu klassischen Umgebung für eine
progressive WG im Zeitalter nach Tschernobyl. Es war der
vorletzte Häuserblock voller Gastarbeiter und Malocher, der
die Randbezirke der alten Innenstadt von dem Stadtteil abgrenzte,
in dem die wohnten, die bis ins Pensionsalter von
Gehaltserhöhung und Eigenheim im Grünen träumten.
In der Kapuziner Gasse wohnten nur die, die auf Zwischenstation
waren, die wußten, daß der anhaltende Traum vom
gesellschaftlichen Aufstieg kein Garant für seine
Verwirklichung war.
Kapuziner Gasse 15a ähnelte
nicht im geringsten jenen Elfenbeintürmchen der 68er
Generation. Es war nicht eine jener malerischen Altbau-WGs mit
allwöchentlichem Plenum und Alibi-Arbeitskreisen, in denen
dann aber der Kühlschrank vollgestopft war mit
Sonderangeboten von Aldi, der Schuhschrank mit Sandalen, die ein
Nazi herstellte; Schuhwerk, das sich entsprechend lautlos jedem
noch so verformten Fuß anglich.
Kapuziner Gasse würde niemals
- attestierte auch Mattau - zu dem gerinnen, was den WGs der 68er
Mitte der Siebziger widerfuhr: RAF gerade am Versagen und
Verzagen, wird die schnieke Wohnung mit Stuck-Verzierungen von
dem Kommunenmitglied übernommen und flugs darauf saniert,
das sich als oberster Sturkopf behauptet. Oft genug war das dann
auch der einzige, dem der Sprung in den gehobenen Beamtendienst
gelungen war.
Niemand in der Kapuziner Gasse
kaufte bei Aldi. Tom, der Punk, klaute dort höchstens,
Carmen jobbte im Kornfeld, einer Art Reformhaus für
Besserverdienende. Von dort brachte sie regelmäßig
Körner und Rezepte mit, die Niet höchstens betrachtete.
Jeder in der Kapuziner Gasse lebte und ließ leben. Eine
gemeinsame Haushaltskasse gab es nicht, der Kühlschrank war
fast immer leer.
Seit Niet vor etwa zwanzig Stunden
vom Flughafen hierher gekommen war, war er niemandem begegnet. Er
schob Taschen und Koffer in eine Ecke mit Plakaten, Wäsche
und anderen Utensilien auf Zwischenstation zum Müll. Hier
war es kurz nach Mitternacht, nach australischer Zeit war es neun
Uhr morgens. Während dem Flug wie in einer zu kalten
Zigarettenschachtel geschlafen, genehmigte er sich einen
zollfreien I.W. Harper, der aussah wie ein Doppelter, ihn aber
auch nicht aufzuwecken imstande war, drehte einen Joint, den er
nicht mehr anzündete, denn schon umarmte und verschlang ihn
seine Matratze.
Als er nach seinem Treffen mit
Mattau wieder zu Hause ankam, war es schon Abend, das Leben in
Sydney auf der schöneren Seite von Mitternacht. Dort begann
es jetzt herbstlich zu werden, auch wenn man davon wenig merkte.
Heute war Donnerstag, Sonntag sollte es nach New York gehen,
nächste Woche weiter westwärts. Er konnte sich also
heute mit Sheila treffen, morgen ausschlafen, abends die
itinerary, den Zeitplan für die Tour, bei Cat abholen.
Equipment mußte diesmal nicht gepackt werden, da das bereits
von Australien nach Kalifornien verschifft worden war. Freitag
abend könnte er mit Sheila Essen gehen, Samstag war also
noch frei. Vielleicht würde er Mattau bitten, ihm seinen
Laptop auszuleihen.
In der Küche setzte er Wasser
auf und schüttete das restliche Kaffeepulver in die Kanne.
Müßte genügen für vier Tassen. Er steckte
sich eine Zigarette an, nahm den Cassetten-Recorder und
drückte die Aufnahmetaste - REC.
Daß es schwer fällt,
eine Gruppe Leute zu verlassen, eine Freundschaft zu
kündigen, ist klar. Ebenso klar, wie es meist schmerzvoller
ist, eine Freundin zu verlassen, als von ihr verlassen zu werden.
In seinem Zimmer steckte er eine andere Cassette in den Recorder;
auf dem Etikett der einen stand Ein Fälle Ein Drücke,
auf dem der anderen Songs & Lyrics.
It's so hard to say goodbye,
sang er in das Mikrofon, and so easy to say hello. Nein, lieber
to-say-hel-lo; eher abgesetzt, leichtes stakkato, das erste in
seichterem legato. Oder vielleicht 'but so easy... -
but...'? Er nahm seine Gitarre, suchte nach den Griffen. Mit
den gefundenen Noten war er einigermaßen zufrieden. Er nahm
sie auf und überlegte, wie er den Klang beschreiben sollte,
den er sich dazu vorstellte. Ein bißchen mit dieser
Melancholie von Beatles' Eleanor Rigby, nur maschineller
gespielt, eher unterkühlt. Er war überzeugt, daß
auch dies eine der Ideen war, die die anderen in der Band zwar
verstehen würden, nicht aber zu spielen bereit
wären.
Während er um das Grund-Riff
herumzupfte, nach Variationen suchend, sah er sein von
Spiegelscherben zersplittertes Gesicht - den halben Mund,
mehrmals das rechte Auge. Er legte die Gitarre beiseite und ging
in die Küche.
Im Topf kochte noch ausreichend
Wasser für eine Espresso-Tasse. Beim Eingießen
mußte Niet an Mattau denken, der immer gewitzelt hatte,
daß er Wasser ganz allgemein dafür dankbar ist,
daß es nicht auf dem Topfboden anbrennt - ja, Mattau - war
schon 'ne Nummer. Mattau, Niets letzte Boje in einer Seenot,
in der ihm das Steuer immer mehr aus der Hand geriet. Mattau, der
Studierende. Mattau, dem er seinen eigenen Schulabschluß zu
verdanken hatte. Mattau mit seinen hölzernen Philosophien,
Mattau mit seiner... Diplomarbeit. Niet fluchte, kein einziges
Mal hatte er ihn heute nachmittag gefragt, wie es ihm
während der letzten Monate ergangen war, ob er sich mit
seiner Nicole wieder eingerenkt hätte, wie es mit seiner
Diplomarbeit voran ginge
Das Telefon war sonderbar schnell
zu finden, wie Niet feststellte, als er das Kabel - ausnahmsweise
- nicht von der Buchse im Flur quer durch drei Zimmer, Bad bis
aufs Dach verfolgen mußte.
Er hob ab und hörte: nichts.
Leitung tot, sagte er, drückte sein Aufnahmegerät auf
REC und sagte es noch einmal. Leitung tot, alle ausgeflogen.
Er griff sich seinen Walkman,
legte It's So Easy ein und verließ das Haus.
It's So Easy, der Song des Punks in Hollywood, des
schlaksigen Bassisten, dem zu viel in den Schoß fällt,
der sich, nur um seine Eroberungsinstinkte zu erfreuen, immer
seltsamere Frauen sucht. It's So Easy, eigentlich die Hymne
der verwöhnten Generation, die sich für all den Luxus
und Komfort nie bedankt hat. Niet fand, manches an dem Lied
erklärte, weshalb er an Sheila genau das als anziehend
empfand, was seine Freunde als zickige Macken bezeichneten.
Ein Buch über
Rock'n'Roll, sein Rock'n'Roll-Roman
müßte auf solche Überlegungen eingehen. Wie kann
ein Buch eine Leidenschaft dokumentieren, ohne darauf einzugehen?
Und doch: Heißt das, nur weil man etwas liebt, daß man
befähigt ist, darüber zu schreiben? Die Liebe zur Musik
alleine ist ja auch nicht unbedingt die Eintrittskarte in eine
Band, die bloße Liebe keine Garantie, daß die Muse
kommt, einen in die Arme nimmt und einem Inspiration einhaucht.
Scheiß drauf, es ist die Hingabe, die Einstellung, die
Türen öffnet. Im Rock'n'Roll jedenfalls.
Und von dieser Einstellung strotzt
It's So Easy, das er das erste Mal hörte, damals, als
die Heizung kaputt war, er kein Geld hatte. Statt dessen einen
Pilz und diesen Job. Beides brachte ihn dazu, wieder Bukowski zu
lesen. In jenem Winter der fremden Betten, des kalten Zimmers.
Die meisten Songs der Platte verstießen gegen ein Dutzend
eiserner Regeln: Das Timing schwankte, wie man es seit Jahren
nicht mehr gehört hatte, das F-word schrie aus jedem Song,
die Gitarristen besudelten sich mit zu langen Improvisationen...
Alles Sachen, die sich nicht gehörten, die man nicht zu
machen hatte. Und sie verkauften und verkauften und verkauften
das Ding. So viele Exemplare, daß jeder Einwohner in
München, Berlin und Hamburg, aber wirklich jedes Kind, jeder
Schupo, jeder Rentner eins haben könnte. Und dann wären
immer noch genügend Platten übrig, um drei, vier andere
Millionenstädte damit zu überschütten.
Vielleicht war das mit dem Roman
doch nicht so die klasse Idee - musikalisch hat er es immer noch
nicht geschafft, das gleißende Licht auf Tonträger zu
bannen, wie kann er in so einer Situation daran denken, das
Medium zu wechseln? Sicher, ist okay, in anderen Gewässern
rumzupaddeln, aber es ernsthaft der Öffentlichkeit zum
Verriß vorlegen? Wenn er zum Beispiel malte, nicht mit Kuli
oder edding kritzelte, sondern mit Wasserfarben auf teurem Papier
richtig malte, dann hatte er immer noch jedesmal den Eindruck, er
durchlaufe während wenigen Minuten so viele Stilrichtungen
wie kaum ein Künstler in seinem Leben: Von Impressionismus
über hastige expressionistische Skizzen des Hintergrunds,
hin zu abstrakterem Surrealismus, die seine unbeabsichtigten
Ausrutscher oder Schmierer entschuldigen sollten. Am Ende kam das
Bild vor ihm dann wie eine völlig abstrakte, eher nach
Collage aussehende, Montage der Moderne. Allein mit Pinsel und
Ruhe konnte er darüber lächeln, über seine
übergesunde Selbsteinschätzung, die immer wieder
Treibstoff für jegliches künstlerisches Schaffen war -
so was aber der Öffentlichkeit zum Fraß und Verriß
vorwerfen?
Was den Rock'n'Roll-Roman
aber betrifft, für den er multimedial arbeiten wollte, wo er
sich drei Phasen vorgestellt hat, Notizbücher, Cassetten,
transkribierender Computer, wo das Endresultat CD, Comic-Strips
und Drehbuchanweisungen beinhalten sollte... Vielleicht waren
seine Möglichkeiten da doch eher so wie das unbeholfene
Werkeln von Amateuren.
Aber auch das hat ja was. Aus
welchen anderen Gründen waren Hanoi Rocks so gut,
Beatles' Revolver so wichtig?
In der Telefonzelle drückte er Mattaus Nummer - es
meldete sich niemand. Während er zurück zur Kapuziner
Gasse ging, bemerkte er, daß die Sonne sich für heute
verabschiedet hatte. Und kein einziges Mal hatte er sie sich
richtig betrachtet und daran gefreut.
Aus einem türkischen
Gemüseladen kam eine Frau mit knöchellangen Jeans,
schwarz. Umhüllt von einem Geruch, den Niet nicht näher
analysieren wollte, und dem zerbestenden Bausch einer wilden
Löwenmähne. Platinblond. Jetzt hatte er es: Haarspray
mit zu viel Alkohol; trocknet die Haare aus, dachte er sich.
Welche Haarfarbe sie an anderen Körperstellen haben mochte -
wie die Sonne?, mal gleißendes Gelb, dann dunkelst wie bei
Nacht. Oder glühendes Rot? Oder vielleicht so gleißend,
daß man kaum hinsehen konnte?
In einem Schaufenster sah er, wie
jemand mit einem langen Messer von einem Gyros-Spieß Fleisch
abschnitt. In der Luft lag der Geruch von angebranntem
Lammfleisch, Sommer, Urlaub, wenig Gepäck und alten
Turnschuhen.
Zurück im Haus, klebte am
Briefkasten ein gelber Zettel von der Post - 'Bitte sofort
öffnen!'. Aha, die nächste Mahnung für
nicht-bezahlte Telefonrechnung. Im Briefkasten befand sich aber
lediglich ein Telegramm. hallo Ausgestiegener +++ melde dich +++
sofort +++ Flug fr 10:35 +++ Cat.
Los Angeles. Big business. Zu dem
Showcase würden geladene Vertreter amerikanischer
Plattenfirmen kommen, um endlich ShamPains chaotische
Vertriebssituation in den USA und Kanada aufs richtige Gleis zu
bringen. Alles Wichser - nach Niet.
Während man sich vorne auf
der Bühne abrackert, stehen die dann tierisch weit hinten am
Tresen, unterhalten sich über ihre neuste Sonnenbank, den
Golfplatz vom Bel Air Country Club im Vergleich zum Hillcrest,
erörtern, welcher Japaner in der Stadt derzeit am besten
Sushi zubereitet, und wie sie gerade an ihrem absolut
fantastischsten, größten Ding überhaupt dran sind.
Zu 99% waren das abgestürzte Profimusiker, die niemals
über den Auftritt vor Freundinnen und Familie im Proberaum
herausgekommen waren. Wenn man sie persönlich in ihrem
Office traf, wippten sie zum Sound der Demo-Cassette mit den
Füßen und dem Kopf, nur um einem danach, mit verzogenem
Mund, zu erklären, daß das Budget der Firma begrenzt
sei, müßt ihr verstehen, ich bin hier ja auch nur ein
einzelner Angestellter in einem großen Betrieb, wenn auch
der einzige, der auf... solche Musik steht, sozusagen der Heavy
Metal in der Firma. Und vielen Dank, ich werde mich melden. Dann
kam in der Regel die blonde Sekretärin ins Zimmer, stellte
die unberührten Kaffeetassen aufs Tablett und sagte dem
Heini, er werde erwartet und, ach ja, ein gewisser, na, du
weißt schon - Hm? - Frank habe angerufen. Stöhnen
vonseiten des Talententdeckers - Nun ja -, ein erklärendes,
entschuldigendes Lächeln. Der Heini stand dann auf,
verwirrte dadurch den Heiligenschein aus Sonne, der ihn bis eben
umgeben hatte, drückte jedem die Hand. Mancher verwies noch
kurz darauf, es ruhig doch auch mal bei anderen Firmen zu
versuchen, nicht aber zu unterschreiben.
Die Telefonzelle war besetzt. Niet
setzte sich auf das Mäuerchen daneben und sah den
lärmenden Kindern beim Toben zu. "Hey Winnetou",
brüllte jemand. "Warum hast du lange Haare?"
fragte ein Junge, der sich neben ihn hockte. Alle möglichen
Leute sprachen Niet auf der Straße an und fragten ihn nach
allen möglichen Sachen. Immer schon.
"Ja, warum eigentlich?"
sagte er und sah dem Kind ins Gesicht. Der Junge starrte auf
Niets Haare, als untersuchte er gerade das erste Mal eine tote
Taube - plattgefahren, die letzten Federn im Wind wehend.
"Ja, vielleicht mache ich sie
ja auch ab - irgendwann."
Der Junge lachte, rieb sich mit
den Händen die Schenkel. Daß Niet hier einige Monate
lang nicht gewohnt hatte, war keinem der Kinder aufgefallen. Er
preßte die Lippen zusammen, nickte, dachte an dies, dachte
an das. Und lächelte. Aus dem Stiefelschaft zog er seine
Zigarettenschachtel.
Beide sagten nichts, der Blick des
Jungen setzte sich fest an den mit Metall verzierten
Leder-Riemchen seiner Stiefel. Nein, warum die nun da sind, das
kann ich wirklich nicht erklären, dachte Niet. Ob sich
Indianer auch solchen Schund von den Buffalo Bills andrehen
ließen?
Den Jungen schien der Dreck der
Stiefel allerdings viel mehr zu faszinieren als die blechernen
Anhängsel - vorsichtig kratzte er unter seinem Schuh. Niet
tippte zweimal, so daß die Kettchen leise klirrten.
Australischer Dreck, dachte er, ob ihn das interessieren
würde? Wie hatte er sich Australien vorgestellt, als er so
klein war, vor - na, sagen wir mal - fünfzehn bis zwanzig
Jahren?
"Wie alt bist du?"
fragte Niet den Jungen.
Der lachte kurz, stand auf und
rannte davon.
© 1996-2004 Matthias Penzel, London, Berlin
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